Mannheimer Begegnungen – Kapitel 1

Mannheimer Begegnungen - Kapitel 1

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“Setz dich, Jakub“, sagt Aniela zu ihrem Urenkel. „Ich möchte dir etwas zeigen.“

Der 24jährige Jakub ist gerne bei seiner Urgroßmutter und besucht sie so oft wie möglich. Aniela ist jetzt 95 Jahre alt und Jakub weiß, dass sie nicht mehr lange leben wird. Zu Beginn der Corona-Pandemie vor einigen Monaten wollte Jakubs Mutter die Besuche bei Aniela verbieten, aber Aniela hat gesagt, sie habe den Krieg und den Kommunismus überlebt. Beides sei schlimmer gewesen als so ein Virus und außerdem würde sie eh bald sterben. Also fährt Jakub weiterhin jeden Sonntagnachmittag zu seiner Urgroßmutter.

„Was willst du mir zeigen?“, fragt Jakub neugierig und setzt sich neben Aniela.

Die alte Frau legt fünf Fotos und drei Briefe auf den Tisch. Auf einem Foto ist ein junger Mann zu sehen.

„Das ist dein Urgroßvater“, sagt Aniela.

„Mein Urgroßvater?“

Jakub ist verwirrt. Er kennt alte Fotoalben und das ist nicht sein Urgroßvater Piotr. Der Mann auf dem Foto hat helle Haare. Das kann man klar erkennen, obwohl das Foto natürlich schwarzweiß ist. Aniela hatte früher auch blonde Haare, aber ihr Mann Piotr hatte dunkelbraune Haare und er sah auch anders aus. Jakub hat seinen Urgroßvater nie kennengelernt, er starb vor seiner Geburt.

„Aber Babcia, das ist doch nicht Opa Piotr“, meint Jakub.

Aniela schaut ihn mit einem traurigen Lächeln an.

„Nein, das ist nicht Piotr, das ist dein Urgroßvater Heinrich. Er war ein deutscher Soldat, aus der Stadt Mannheim. Schau hier, das ist das einzige Foto von uns beiden zusammen.“

Jakub schaut auf das Foto, das Aniela ihm hinschiebt. Ja, das ist seine Babcia. Sehr jung und sehr hübsch ist sie auf dem Bild. Neben ihr steht der junge Mann von dem anderen Foto. Er hat den Arm um Aniela gelegt. Beide sehen sehr glücklich und verliebt aus.

„Das war 1942. In Warschau. Ich war 17. Wir waren eine Woche dort. Meine Eltern dachten, dass ich bei Verwandten bin, um Arbeit zu suchen. Heinrich hatte Urlaub. Ja, ja, die Deutschen haben den Soldaten manchmal Urlaub gegeben. In dieser Woche bin ich schwanger geworden. Wir haben Pläne gemacht. Wir wollten nach Skandinavien und dort warten, bis der Krieg vorbei ist. Heinrich wollte nicht für Hitler und seine irrsinnigen Ideen kämpfen. Aber zwei Monate später haben sie Heinrich nach Russland geschickt. Wir hatten einfach nicht genug Zeit, um unsere Flucht vorzu-bereiten.  Er hat mir aus Russland geschrieben.“

Aniela zeigt auf die Briefe. Jakub nimmt einen in die Hand. Sie sind auf Polnisch geschrieben, aber mit vielen Fehlern. Aniela nimmt Jakub den Brief aus der Hand.

„Du kannst sie später lesen, wenn ich nicht mehr bin“, meint sie.

„Und was ist dann passiert?“, fragt Jakub.  

Irgendwann kamen keine Briefe mehr, aber es wurde sichtbar, dass ich schwanger war. Meine Eltern haben die Heirat mit Piotr arrangiert. Ich kam aus einer guten, katholischen Familie. Piotr war kein schlechter Mann, aber etwas einfältig. Zum Glück hat er mich in Ruhe gelassen. Wenn du verstehst, was ich meine.“

„Deshalb hast du keine weiteren Kinder mehr bekommen“, fragt Jakub neugierig. „Also, du und Opa Piotr, ihr wart kein richtiges Ehepaar?“

„Ja, genau. Deine Großmutter Daria kam im April 1943 zur Welt. Mitten im Krieg. Die Deutschen waren so grausam. Das war alles so schrecklich.“

Aniela hat jetzt Tränen in den Augen. Jakub nimmt ihre Hand. Die alte Frau atmet tief ein.

„Aber Heinrich war nicht so, weißt du? Er musste in den Krieg, aber er wollte das alles nicht. Er hat mir versprochen, dass er zu mir zurückkommt, wenn der Krieg vorbei ist. Ich dachte, ich erzähle einfach niemandem von dieser Ehe mit Piotr. Wir würden neu anfangen. Heinrich hatte von Argentinien gelesen und er wollte unbedingt dorthin. Aber Heinrich ist nie gekommen. Viele Jahre später habe ich herausgefunden, dass er in der Schlacht von Stalingrad gefallen ist. Verdammter Krieg. Erst die Deutschen und dann kamen die Sowjets und der Kommunismus.“

Aniela legt die anderen drei Fotos auf den Tisch. Auf allen ist Heinrich zu sehen, zusammen mit anderen Menschen.

„Das ist Heinrich mit seinen Eltern. Ich weiß leider nicht, wie sie heißen. Und hier zwei Fotos mit seinem jüngeren Bruder Helmut. In Deutschland, kurz bevor er nach Polen geschickt wurde. Bestimmt hat Heinrichs Bruder geheiratet und Kinder bekommen. Er war acht Jahre jünger als Heinrich. Zu jung für den Krieg, obwohl Hitler natürlich zum Schluss auch Jugendliche an die Front geschickt hat. Aber Heinrich meinte, dass sein Bruder Asthma hatte und ihn das vor dem Krieg retten würde.

„All das weißt du noch, Babcia?“

„Natürlich. Heinrich war die Liebe meines Lebens. Wenn die Katholiken recht haben, sehe ich ihn bald wieder. Oder vielleicht haben die Buddhisten recht und wir werden beide wiedergeboren und bekommen eine zweite Chance. Ich glaube, das würde mir besser gefallen.“

Jakub weiß, dass seine Urgroßmutter anders als der Rest der Familie nicht religiös ist. Sie geht nie sonntags in die Kirche und hatte ihn unterstützt, als er mit 14 rebellierte und seine Eltern nicht mehr zur Messe begleiten wollte. Trotz der fast 70 Jahre Altersunterschied ist Aniela das Familienmitglied, mit dem Jakub sich am besten versteht. Aber warum hatte sie ihm das alles erst jetzt erzählt? Er war schon lange kein Kind mehr. Warum hatte sie nie früher darüber gesprochen?

„Wissen Mama und Papa, wer Mamas Großvater wirklich war?“, fragt Jakub.

Aniela schüttelt den Kopf.

„Nein, und auch Dania wusste es nicht.“

Dania war Anielas Tochter. Sie war gestorben, als Jakub ein kleines Kind war. Er kann sich nicht an sie erinnern.

„Warum hast du es deiner Tochter nie erzählt?“

„Dania war zu stark von meinen Eltern beeinflusst. Ich habe nach dem Krieg gearbeitet und meine Mutter hat sich um Dania gekümmert. Dania war wie deine Mutter Amelia. Du bist anders, Jakub. So, wie ich anders war. Schwarze Schafe der Familie. Ich werde nicht mehr lange leben, und ich wünsche mir, dass du nach Mannheim fährst und die Familie deines Urgroßvaters suchst. Versprichst du mir das?“

„Ja, Babcia, ich verspreche es dir.“

„Wenn ich nicht mehr bin, findest du die Briefe von Heinrich in der Kommode in meinem Schlafzimmer in einem Umschlag mit deinem Namen.“

„Ok, ich verstehe, aber ich bin sicher, dass du noch mindestens 100 wirst.“

Aniela lächelt.

„Schauen wir mal.“

  • der Urenkel, great-grandson
  • die Urgroßmutter, great-grandmother
  • vor einigen Monaten, some months ago
  • verbieten, to forbid
  • der Krieg, war
  • überleben, to survive
  • schlimmer, worse
  • außerdem, apart from that
  • eh, anyway
  • weiterhin, continue to so sth.
  • neugierig, curious
  • legen, to put
  • er ist zu sehen, he can be seen
  • der Urgroßvater, great-grandfather
  • verwirrt, confused
  • helle Haare, light hair
  • erkennen, to recognize
  • er sah anders aus, he looked different
  • vor seiner Geburt, before he was born
  • Babcia, Polish word for grandma
  • mit einem traurigen Lächeln, with a sad smile
  • der Soldat, soldier
  • das einzige Foto, the only photo
  • von uns beiden, of the two of us
  • Er hat den Arm um Aniela gelegt, He put his arm around Aniela
  • verliebt, in love
  • die Verwandten, relatives
  • schwanger werden, to become pregnant
  • vorbei, over
  • irrsinnig, crazy
  • kämpfen, to fight
  • schicken, to send
  • die Flucht, escape
  • vorbereiten, to prepare
  • aus der Hand nehmen, to take off one’s hand
  • wenn ich nicht mehr bin, when I’m no longer here (when she’s dead)
  • irgendwann, at one point, sometime
  • sichtbar, visible
  • eine Heirat arrangieren, to arrange a marriage
  • einfältig, simple-minded
  • keine weiteren Kinder bekommen, to have no more children
  • ein richtiges Ehepaar, a real couple
  • mitten im Krieg, in the middle of the war
  • grausam, cruel
  • tief einatmen, to take a deep breath
  • versprechen, to promise
  • unbedingt, at all costs
  • dorthin, to there
  • die Schlacht, battle
  • (im Krieg) fallen, to die in a war
  • Verdammter Krieg, damn war
  • kurz bevor, shortly before
  • bestimmt, for sure
  • zum Schluss, in the end
  • der Jugendliche, teenager
  • retten, to save
  • recht haben, to be right
  • wiedergeboren werden, to be reborn
  • unterstützen, to support
  • die Messe, mass at a Catholic church
  • begleiten, to accompany
  • trotz, in spite of
  • Er war schon lange kein Kind mehr, he hadn’t been a child for a long time (he’s grown-up)
  • sich erinnern an, to remember
  • beeinflussen, to influence
  • sich kümmern um, to look after
  • das schwarze Schaf,  the black sheep
  • versprechen, to promise
  • die Kommode, chest of drawers
  • der Umschlag, envelope
  • mindestens, at least

Cultural insights: World WAR II and the battle of Stalingrad

„Aniela hat gesagt, sie habe den Krieg und den Kommunismus überlebt.“

„Heinrich ist in der Schlacht von Stalingrad gefallen.“

When older people in Germany or Austria mention “the war”, they always refer to World War II. This is changing with the younger generations who are more specific but as far as I know, it’s the same in Poland and other countries that were attacked by the Nazis.

If you’re not that familiar with World War II: It started on September 1, 1939 when Germany attacked Poland. That means that German soldiers were stationed in Poland for almost six years. Like in today’s Russia, not everyone supported the war, but most Polish people regarded all Germans as enemies.

The battle of Stalingrad started in August 1942 and ended in February 1943 with the total defeat of the 6th German Army and their Italian and Romanian allies (1,000,000 soldiers). About 108,000 soldiers became prisoners of war and just 6,000 of them returned to the home countries until 1956, most of them physically and/or mentally disabled for the rest of their lives. The Soviet Union also lost about 500,000 soldiers and numerous civilians were killed during the battle of Stalingrad.

Sprachtipp: weiterhin

Jakub fährt weiterhin jeden Sonntagnachmittag zu seiner Urgroßmutter.

Jakub continues to go to his great-grandmother’s every Sunday afternoon. 

The English verb “to continue” would be “weitermachen” or “fortfahren” in German. However, you can’t use these verbs when you talk about something that someone continues to do. Instead, we use the prefix “weiter” or the adverb “weiterhin” as in the example sentence. While “weiter” is always “continue”, “weiterhin” also implies “still”: Jakub still go to his great-grandmother’s (although his mother doesn’t want him to).

Did you like the first chapter? Then, it’s time to get the book: 

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