19. Kann man in Deutschland über die Nazizeit sprechen?

Hallo, hier ist Daniela von German with Stories.  Schön, dass du wieder dabei bist. Heute haben wir ein ernstes Thema. Die Nazizeit, der Holocaust, die Ermordung von Millionen von Juden und anderen nicht erwünschten Menschen auf Befehl eines irren Rassisten und Nationalisten. Ich möchte aber nicht darüber sprechen, wie das passieren konnte oder die Geschichtslehrerin spielen, sondern ich werde dir in erster Linie erzählen, was ich von meinen Großeltern über diese Zeit gehört habe und was ich in der Schule über den Nationalsozialismus gelernt und erfahren habe.

Fangen wir mit meinen Großeltern an. Sie leben beide nicht mehr. Die Eltern meiner Mutter, um genau zu sein. Meine Großeltern väterlicherseits habe ich nie kennengelernt, aber mit den Eltern meiner Mutter bin ich aufgewachsen. Sie, meine Eltern, meine Schwester und ich haben im gleichen Haus gewohnt. Mein Großvater wurde 1921 geboren und ist 1999 an einem Gehirntumor gestorben. Meine Großmutter wurde 1922 geboren und ist 2009 gestorben. Beide waren Kinder, als Hitler 1933 an die Macht kam und sind während der Nazizeit erwachsen geworden.

Mein Großvater besaß viele Bücher über den Zweiten Weltkrieg. Wie die meisten jungen Männer seines Jahrgangs war er Soldat. Ich kann mich nicht erinnern, seit wann er im Krieg gekämpft hat, aber ich weiß, dass er zwei Jahre in amerikanischer Kriegsgefangenschaft verbracht hat. Zum Glück muss man sagen, denn aus den USA sind fast alle deutschen Soldaten nach Kriegsende in gesundheitlich gutem Zustand zurück nach Deutschland gekommen. Das sah bei den deutschen Soldaten, die von den Sowjets gefangen genommen wurden, komplett anders aus. Mein Großvater war in einem Lager in Texas. Davon hat er viel erzählt und war stolz darauf, dass er dort ein bisschen Englisch gelernt hat. Ich habe nach dem Tod meines Großvaters mit Erlaubnis meiner Großmutter viele alte Dokumente und Briefe gelesen und bin mir ziemlich sicher, dass er mit den Ideen der Nazis zumindest sympathisiert hat. Meine Großeltern haben sich erst kennengelernt, als mein Großvater aus den USA zurückgekehrt war. Sie haben 1949 geheiratet und ihr einziges Kind, meine Mutter, wurde zwei Jahre später geboren.

Zu meiner Großmutter hatte ich ein sehr enges Verhältnis, aber sie hat nicht gern über die Nazi-Zeit gesprochen. Ich kann mich erinnern, dass sie oft gesagt hat, dass sie gar nicht gewusst hat, was wirklich passiert ist und dass das ja niemand gewollt hat, dass so viele Menschen sterben und es so einen schrecklichen Krieg gibt. Meine Großmutter war ein sehr herzlicher und liebenswerter Mensch und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie die Ermordung von unschuldigen Menschen gut gefunden hätte. Ebenso wie mein Großvater kam sie aus einfachen Verhältnissen. Sie war Mitglied im Bund deutscher Mädel (BDM), der Jugendorganisation der Nazis für 14- bis 18jährige Mädchen. Die Mitgliedschaft war Pflicht, aber meine Oma hat vieles als positiv in Erinnerung behalten. Sie hätten Ausflüge gemacht und es sei eine tolle Gemeinschaft gewesen. Logischerweise waren Jüdinnen nicht zugelassen. Meine Oma hat auch immer wieder erwähnt, dass Hitler Autobahnen gebaut und Arbeitsplätze geschaffen hat. Ich erzähle dir das so, damit du verstehst, dass in deutschen Familien die Jahre vor dem Krieg keineswegs ausschließlich negativ beurteilt wurden. Es gibt immer einen Unterschied zwischen der Politik und dem tatsächlichen Leben ganz normaler Menschen. Meine Großmutter war so ein normaler Mensch. Sie kam aus einer deutschen Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet. Die Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung, die 1933 anfingen, betrafen sie also nicht.

Ich hatte allerdings oft das Gefühl, dass sie sich rechtfertigen wollte, wenn sie sagte, dass sie nichts gewusst hat. Vielleicht, um sich weniger dafür zu schämen, dass sie zu denen gehörte, die zwar nicht mitgemacht haben, aber einfach alles zugelassen haben. Ich möchte darüber nicht urteilen, denn ich denke, die wenigsten Menschen sind als Widerstandskämpfer geboren. Einige von uns werden es durch die Umstände, aber viele Menschen wollen einfach nur ihr Leben leben. Das ist ja heute nicht anders. Ich denke, Menschen wie meine Großeltern gab es sehr viele während der Nazizeit. Also, meine Großmutter meinte, natürlich habe man mitgekriegt, dass die jüdischen Geschäfte alle schließen mussten. Das sei nicht gut gewesen, aber die Politik war halt so und sie habe gedacht, dass die Juden aus ihrer Heimatstadt wegen der judenfeindlichen Politik weggezogen waren. Von Auschwitz und anderen Konzentrationslagern habe sie erst nach dem Krieg erfahren.  Aus psychologischer Sicht ist es übrigens gut möglich, dass sie zum Selbstschutz vieles aus ihrem Bewusstsein verdrängt hat. Wir wollen ja alle zu den Guten gehören. Ich selbst hatte eine Phase, wo ich mir gewünscht habe, aus einer jüdischen Familie zu kommen. Allerdings würde ich dann heute mit großer Wahrscheinlichkeit entweder nicht existieren oder ich wäre nicht in Deutschland geboren worden.

In Deutschland wird das Thema Nazizeit etwa ein Jahr lang im Geschichtsunterricht behandelt. Also, mit der ganzen Vorgeschichte, Niederlage im Ersten Weltkrieg, Hyperinflation von 1922/23, Weimarer Republik, Weltwirtschaftskrise von 1929. Bei mir war das in der 9. Klasse, da war ich 15. Ich nehme an, das ist heute immer noch so, kann es aber nicht genau sagen. Die meisten Schulklassen besuchen während dieser Zeit auch eines der ehemaligen Konzentrationslager. Ich war in Bergen-Belsen. Das liegt so ungefähr zwischen Hannover und Hamburg.

Bergen-Belsen war kein Vernichtungslager. Vernichtungslager bedeutet, dass die Menschen dort umgebracht wurden, weil sie Juden waren. Auschwitz war ein Vernichtungslager. In Bergen-Belsen waren auch Kriegsgefangene aus Frankreich, Belgien und der Sowjetunion untergebracht. Ebenso wie in den anderen Konzentrationslagern lebten die Häftlinge unter extrem schlechten Bedingungen. Mehr als 50.000 Menschen sind dort gestorben. Oder sie wurden weiter nach Auschwitz geschickt. Ab Ende 1944 begannen die Nazis jedoch, Auschwitz zu räumen, da die Rote Armee immer näher rückte. Deshalb wurden Häftlinge von dort nach Bergen-Belsen geschickt. Unter ihnen war ein Mädchen, dessen Namen du bestimmt kennst: Anne Frank. Ihr Tagebuch wurde später als Buch veröffentlicht und falls du es noch nicht gelesen hast, solltest du es unbedingt tun. Anne Frank starb mit 15 Jahren in Bergen-Belsen, nur wenige Wochen, bevor die Briten das Lager befreiten.

Ungefähr zur gleichen Zeit, als ich im Geschichtsunterricht die Nazi-Zeit als Thema hatte, bekam mein Großvater übrigens Post aus den USA. Eine amerikanische Historikerin forschte über die Erfahrungen deutscher Kriegsgefangener in den USA und bat meinen Großvater, einige Fragen zu beantworten. Wie erwähnt hatte mein Opa ein bisschen Englisch gelernt, aber es war nicht ausreichend, um die Fragen der Historikerin zu verstehen und zu beantworten. Also habe ich geholfen. Ich kann mich erinnern, dass ich es spannend fand, die Fragen mit Hilfe meines damaligen Schulenglisch zu beantworten, aber ich war leider nicht schlau genug, die Historikerin zu bitten, eine Kopie ihres Buches zu schicken. Heute wäre das alles so einfach. Schick mir einen Link oder eine PDF. Aber 1985 gab es noch kein Internet. Im Nachhinein finde ich es auch interessant, dass diese Amerikanerin meinen Großvater auf Englisch kontaktiert hat. Per Brief. Auch das konnte man damals nicht einfach mal schnell übersetzen.

Was mich betrifft, so interessiere ich mich seit dieser Zeit für die Geschichte der Juden. Zwar war der Holocaust ein entsetzlicher Höhepunkt, aber Judenverfolgungen gab es ja schon viel früher und nicht nur in Deutschland. Naja, und ich habe immer versucht zu verstehen, warum das so war und wie sich das entwickelt hat. Natürlich verstehe ich mittlerweile viele Tatsachen und Entwicklungen, aber emotional habe ich nach wie vor keinen Zugang. Ich kann es verstehen, wenn die Bevölkerung eines Landes es nicht mag, wenn eine Gruppe von Menschen sich nicht integriert und ständig negativ auffällt, aber das war bei den Juden in Deutschland nicht der Fall. Viele hatten kleine Geschäfte oder haben ganz normal gearbeitet. Den Nazis war es auch völlig egal, ob jüdische Einwohner ihre Religion praktizierten oder nicht. Einzig und allein die Tatsache, dass jemand jüdisch war, reichte aus, um in Auschwitz zu landen. Also, ich kann verstehen, dass es einen Irren wie Hitler geben kann, aber wie kann es sein, dass so viele Menschen mitgemacht haben? Anweisungen, Befehle befolgen? Und ab einem gewissen Punkt einfach das machen, was die Mehrheit macht? Ich bin als Introvertierte kein Gruppenmensch und habe am liebsten meine Ruhe, aber ich bin auch kein Mensch, der einfach schweigt. Allerdings habe ich keine Erfahrung mit totalitären Regimen. Ich bin in Westdeutschland geboren und aufgewachsen und konnte immer meine Meinung sagen, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen. Seit einigen Jahren gibt es da zwar leichte Einschränkungen, wenn man bei gewissen Themen nicht die aktuell populären Meinungen vertritt und gerade in Deutschland gefällt mir die Entwicklung überhaupt nicht, aber natürlich kann man das nicht mit der Nazi-Zeit vergleichen. Oder mit dem Sozialismus/ Kommunismus in der ehemaligen DDR.

Meiner Meinung nach ist es normalerweise kein Problem, mit Deutschen über die Nazizeit zu sprechen. Jeder wird dir sagen, dass das schrecklich war und auf keinen Fall wieder passieren darf. In gewisser Weise haben wir da ein nationales Trauma. Seit ich nicht mehr in Deutschland lebe, ist mir klargeworden, wie anders Deutschland in Sachen Nationalstolz und Patriotismus ist. In jedem Land Lateinamerikas sieht man überall Landesflaggen. Wenn ich hier in Buenos Aires vom Balkon schaue, sehe ich argentinische Flaggen auf drei anderen Balkons. Wenn das in Deutschland jemand machen würde, käme gleich der Verdacht auf, dass der Mensch ein Nazi ist. Deutsche Flagge zeigen ist eigentlich nur in Verbindung mit Fußball akzeptabel. Ich glaube, in Österreich ist das anders, obwohl Hitler gebürtiger Österreicher war und Österreich sich nicht wirklich gegen den sogenannten Anschluss ans Deutsche Reich im Jahr 1938 gewehrt hat. Auch die Bayern haben … hm, wie nennt man das? Nicht Nationalstolz, weil Bayern ja kein selbständiger Staat mehr ist, sondern ein Teil Deutschlands. Jedenfalls sieht man in Bayern häufig die typisch bayrischen blauweißen Farben. Gut, aber das ist ein anderes Thema.

Ich verabschiede mich für heute und hoffe, dass dir diese Folge trotz des schwierigen Themas gefallen hat. In zwei Wochen gibt es die nächste Folge für B1/B2. Falls du Podcasts nicht nur passiv nutzt, sondern aktiv dein Deutsch mit ihnen verbessern willst, findest du auf meiner Website ein Transkript mit Vokabeln Deutsch-Englisch und ein Worksheet zu dieser und allen anderen Folgen des German with Stories-Podcast. Bis bald. 

3 thoughts on “19. Kann man in Deutschland über die Nazizeit sprechen?”

  1. Das war höchst interessant. Du hast das sehr gut erklärt. Das ist sicherlich nicht ein leichtes Thema. Kriege und Tragödien gehören leider zu dem Leben. Ich möchte weder ein Land oder noch eine Bevölkerung verurteilen. In jedem Ort gibt es böse und fromme Menschen. Manche Leute zeigen auf andere Menschen und sagen, das würde ich nie tun, aber in solchen Situationen haben die meisten von uns nicht erlebt. Gott sei Dank! Forscher haben ein Experiment in den Sechzigerjahren das ein sehr sorgenvolles Ergebnis produziert hat. Falls du Interesse hast, es heißt Milgram Schock Experiment. In diesem Sinne möchte ich dir danken für deine Mühe und diese sinnvolle Lehre.

      1. Ja, stimmt. Ich möchte mich über das andere Experiment informieren. Übrigens soll ich gesagt hätten, das war kein leichtes Thema. Oje, ich lerne noch. Schönen Tag noch.

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