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Friedrich lebte in einem kleinen Dorf in Süddeutschland. Er hatte von seinem Vater Johann das Handwerk des Tischlers gelernt, aber er wollte die Welt kennenlernen und dabei sein Können perfektionieren. Deshalb beschloss er, auf die Walz zu gehen.
Die Walz war eine alte Tradition. Handwerker verließen für eine bestimmte Zeit ihre Heimat, machten neue Erfahrungen und lernten von verschiedenen Meistern. Nur, wer auf die Walz gegangen war, konnte Handwerksmeister werden. Auch Friedrichs Vater war vier Jahre auf der Walz gewesen und hatte immer voller Begeisterung von dieser Zeit erzählt.
Es war der 6. April 1514, als Friedrich sich von seiner Familie verabschiedete. Er hatte seine Werkzeuge bei sich, Kleidung zum Wechseln und eine kleine Geldsumme, um seine Reise finanzieren zu können. Friedrich wusste, dass er kein Geld verdienen würde. Handwerksmeister, die junge Leute auf der Walz aufnahmen, stellten ihnen nur einen Schlafplatz und Verpflegung zur Verfügung.
Friedrichs erstes Ziel war Augsburg. Dort kam er nach zwei Tagen Fußmarsch an. Zuerst lief er fasziniert durch die Straßen. In Friedrichs Dorf lebten nur etwa 200 Menschen, aber Augsburg war eine Stadt mit 30.000 Einwohnern und beeindruckenden Gebäuden. Aber wie sollte er hier einen Tischlermeister finden. Zögernd betrat er schließlich eine Wirtsstube. Dort saßen Männer, die aßen, tranken und lachten.
„Entschuldigung“, sprach Friedrich den Wirt an. „Ich bin auf der Walz und suche einen Tischlermeister, der meine Dienste gebrauchen und bei dem ich Neues lernen kann.“
Der Wirt lachte. „Oje, junger Mann. Weißt du nicht, dass Augsburg bei euresgleichen sehr populär ist? Aber du machst einen sympathischen Eindruck. Schau, am Tisch dort rechts sitzt Hans Buchner. Er ist einer der besten Tischlermeister der Stadt. Geh hin und sprich mit ihm.“
Friedrich machte, was der Wirt ihm gesagt hatte. Hans Buchner war ein Mann um die 60 mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen. Er hörte Friedrich interessiert zu.
„Was ist dir wichtiger, deine Fähigkeiten zu perfektionieren oder Kontakte zu knüpfen?“, fragte er.
Friedrich überlegte kurz. „Ich finde beides wichtig, aber wenn ich nur eines haben könnte, dann möchte ich lieber meine Fähigkeiten perfektionieren“, meinte er schließlich.
„Gut, dann machst du dich morgen auf den Weg nach Gersthofen. Das liegt etwa 10 km nördlich von Augsburg. Dort wohnt Alessandro Vitale. Er hat sein Handwerk in Florenz gelernt und ist ein Meister seines Fachs. Gib ihm dies hier und sag ihm, der alte Buchner schickt dich.“
Der Tischlermeister holte eine fremdländisch aussehende Münze aus seiner Tasche und gab sie Friedrich. Dieser bedankte sich und verließ das Wirtshaus. Am nächsten Morgen wanderte er in das Dorf Gersthofen und fragte dort eine Gruppe Kinder nach dem Italiener. Ein etwa 12jähriger Bursche wies auf ein Haus am Ende des Dorfes.
Es stellte sich heraus, dass Hans Buchner zwei Dinge nicht erwähnt hatte. Zum einen war Alessandro Vitale stumm und zum anderen stellte er ausschließlich Kommoden von bester Qualität her, die als Einzelstücke von Fürsten und reichen Kaufleuten gekauft wurden. Letzteres erfuhr Friedrich von Alessandros 14jährigem Sohn Pietro. Alessandro freute sich über Friedrichs Ankunft. Der Italiener war von kleiner Statur und hatte fast feminine Gesichtszüge. Friedrich blieb ein halbes Jahr bei ihm und lernte nicht nur spezielle florentinische Techniken von Alessandro, sondern auch ein bisschen Italienisch von Pietro. Er war traurig, als er Alessandro und seinen Sohn verließ, aber Gesellen auf der Walz dürfen nicht länger als 6 Monate am gleichen Ort bleiben und er wollte ja auch noch mehr von der Welt sehen.
In den folgenden drei Jahren wanderte Friedrich bis an die Nordseeküste. Er lernte viel, aber bei niemandem blieb er so lange wie bei Alessandro Vitale.
An einem grauen und nebligen Novembertag war Friedrich unterwegs Richtung Frankfurt, als er plötzlich von einer Gruppe Wegelagerer umzingelt wurde. Sie bedrohten ihn und verlangten sein Geld und seine Werkzeuge. Friedrich war verzweifelt, aber er wusste, dass er froh sein konnte, wenn er mit dem Leben davonkam. Mit Tränen in den Augen übergab er den Räubern seine Habseligkeiten. Als der Anführer der Räuber ein Messer zog, konnte Friedrich nur daran denken, dass seine Eltern nun niemals erfahren würden, was aus ihm geworden war.
Auf einmal hörte er das Geräusch von Pferdehufen und es näherte sich eine Kutsche in Begleitung von Soldaten auf Pferden. Die Soldaten erfassten die Situation schnell und erschossen die Räuber. Zitternd beugte sich Friedrich zu dem toten Anführer und nahm seinen Rucksack an sich. Er bedankte sich bei den Soldaten und wollte weiterlaufen, als ein Mann um die 40 aus der Kutsche stieg und zu Friedrich ging.
„Du bist auf der Walz, nicht wahr?“
„Ja, genau. Vielen Dank. Ihre Soldaten haben mir das Leben gerettet.“
„Keine Ursache. Ich bin Maximilian von Falkenstein, Herr über diese Ländereien und Wegelagerer kann ich hier nicht gebrauchen. Wie heißt du und wie lange bist du schon unterwegs?
„Friedrich ist mein Name. Seit über drei Jahren auf der Walz und langsam auf dem Weg nach Hause.“
„Welches Handwerk übst du aus?“
„Ich bin Tischler.“
Maximilian von Falkenstein sah den jungen Mann nachdenklich an.
„Willst du mich begleiten? Ich möchte, dass du dir etwas anschaust.“
Maximilian von Falkenstein lebte in einem großen Haus in Frankfurt. Er zeigte Friedrich eine Kammer, in der er schlafen konnte und führte ihn dann in seine Privatgemächer. Dort zeigte er ihm eine Kommode.
„Ich hätte gern ein Duplikat von dieser Kommode. Hast du diese Fähigkeiten?“
Friedrich schaute sich die Kommode genauer an. Viele kleine Details kamen ihm bekannt vor. Alessandro Vitale, sein erster Meister, hatte solche Kommoden gemacht. Friedrich öffnete die erste Schublade und schaute in die Ecke hinten links. Ja, genau. Dort waren die Initialen A.V. eingeritzt.
„Ich habe bei dem Tischlermeister gelernt, der diese Kommode angefertigt hat“, meinte Friedrich.
„Das glaube ich nicht. Diese Kommode kommt aus Florenz und ist das Werk einer ganz besonderen Person.“
Maximilian von Falkenstein wirkte plötzlich traurig.
Friedrich zeigt ihm die Initialen. „Schauen Sie. Alessandro Vitale. Er hat seine Arbeiten immer so gekennzeichnet. Ich habe sechs Monate bei ihm gelernt. In der Nähe von Augsburg.“
Maximilian von Falkenstein starrte Friedrich an. Dann drehte er sich um und verließ ohne ein Wort den Raum. Friedrich war verwirrt. Offenbar kannten der Fürst und der Tischlermeister sich, aber etwas war passiert. Friedrich ging zurück in seine Kammer.
Am nächsten Morgen klopfte ein Diener an seine Tür.
„Steh auf, der Fürst erwartet dich.“
Schnell zog Friedrich sich an und folgte dem Diener.
„Ich möchte, dass du mich zu diesem Tischlermeister bringst, Alessandro Vitale“, sagte Maximilian von Falkenstein zu Friedrich.
So fuhren sie nach Gersthofen. Vor dem Haus des Tischlermeisters stieg der Fürst allein aus. Erst nach zwei Stunden kam er in Begleitung von Alessandro und Pietro zurück. Alle drei bestiegen die Kutsche.
Friedrich freute sich sehr, seinen alten Meister wiederzusehen. Und aus dem schlaksigen Pietro war ein attraktiver junger Mann geworden. Er setzte sich neben Friedrich. Alessandro und Maximilian von Falkenstein saßen ihnen gegenüber.
Die Kutsche setzte sich in Bewegung und Maximilian legte seinen Arm um Alessandro.
„Junger Mann, du sollst wissen, dass ich dir für den Rest meines Lebens zu Dank verpflichtet bin“, sagte er zu Friedrich.
Er nahm Alessandro den Hut ab, den dieser immer trug. Zum Vorschein kamen lange braune Haare und plötzlich wurde Friedrich klar, warum sein alter Meister immer so feminin gewirkt hatte.
„Schön, dich wiederzusehen, Friedrich.“
Uff, und stumm war er auch nicht. Oder vielmehr sie.
„Alessandra ist die Tochter einer der besten Florentiner Tischlermeister“, erklärte der Fürst. „Sie hat schon als Kind viel von ihrem Vater gelernt. Vor fast 20 Jahren haben wir uns in Florenz kennengelernt. Sie war erst 16 und das schönste Mädchen, dass ich jemals gesehen hatte. Wir haben uns ineinander verliebt, aber sowohl ihr Vater als auch meine Familie waren der Meinung, dass eine Heirat nicht möglich ist. Der älteste Sohn der von Falkensteins kann keine Tischlerstochter heiraten. Egal, wie wohlhabend ihre Familie ist. Aber ich war nicht bereit, Alessandra aufzugeben und hätte sie auch gegen den Willen unserer Familien geheiratet, aber dann war sie plötzlich verschwunden. Mir war klar, dass mein Vater dahinterstecken musste. Er war kurz zuvor nach Florenz gekommen. Trotz aller Suche habe ich Alessandra nie wiedergesehen. Ich habe mich mit meinem Vater entzweit und nie geheiratet.“
Friedrich war beeindruckt. Maximilian von Falkenstein war in der Tat ein ungewöhnlicher Mann.
„Und wie bist du nach Deutschland gekommen?“, fragte er Alessandra.
„Mein Vater hat mich auf Druck des alten Fürsten von Falkenstein nach Augsburg zu Hans Buchner geschickt. Dort habe ich festgestellt, dass ich schwanger war. Die Buchner-Familie hat mich daraufhin nach Gersthofen gebracht. Sie kamen von dort, das Haus gehörte ihnen. Ich habe also meinen Sohn bekommen und wieder angefangen zu arbeiten. Obwohl ich ein Mädchen war, habe ich meinem Vater als Kind viel geholfen und alles über das Tischlerhandwerk gelernt. Ich liebte es, mit Holz zu arbeiten. Hans Buchner verkaufte meine Kommoden gegen eine Kommission, aber Irgendwann gab es Kunden, die spezielle Wünsche hatten und mit mir sprechen wollten. Natürlich hätte niemand die Arbeit einer Frau akzeptiert. Also begann ich, mich wie ein Mann zu kleiden und gab vor, stumm zu sein. Zuerst übernahm eine junge Frau aus dem Dorf die Rolle des „Übersetzers“ und später dann Pietro.“
„Dann wissen in Gersthofen alle, dass du eine Frau bist?“, fragte Friedrich.
„Ja, und es war gar nicht leicht, als du ein halbes Jahr dort gewohnt hast. Ich habe Hans Buchner später gefragt, warum er dich zu mir geschickt hatte, und er meinte, es war wie eine innere Eingebung, er könne es nicht erklären. Nun, jetzt scheint es so, als wollte eine höhere Macht, dass Maximilian und ich uns mit deiner Hilfe wiederfinden.“
„Das sehe ich genauso,“ meinte Maximilian von Falkenstein. „Und von jetzt an lasse ich dich nicht mehr aus den Augen. Und Pietro auch nicht.“
Nachdem sie wieder zurück in Frankfurt waren, blieb Friedrich noch ein halbes Jahr bei den Falkensteins, nahm an der großen Hochzeitsfeier von Maximilian und Alessandra teil und reiste dann zurück in sein Heimatdorf. Seine Eltern und seine Geschwister waren sehr glücklich, ihn wiederzusehen und hörten jeden Abend seinen Reisegeschichten zu. Besonders fasziniert waren sie natürlich von der ungewöhnlichen Liebesgeschichte mit Happyend.
- der Tischler, carpenter
- das Handwerk, handicraft
- das Können, skills
- beschließen, er beschließt, er beschloss, er hat beschlossen, to decide
- auf die Walz gehen, to take to the road (craftsmen)
- für eine bestimmte Zeit, for a certain amount of time
- der Handwerksmeister, master craftsman
- voller Begeisterung, full of enthusiasm
- sich verabschieden, to say goodbye
- die Werkzeuge, tools
- jemanden aufnehmen, to receive (as part of the household)
- zur Verfügung stellen, to provide
- die Verpflegung, food
- der Fußmarsch, march
- beeindruckend, impressive
- zögernd, hesitant, reluctant
- schließlich, finally
- jemanden ansprechen, to address/approach someone
- der Wirt, innkeeper
- meine Dienste, my services
- euresgleichen, people like you
- einen sympathischen Eindruck machen, seem to be a nice person
- um die 60, around 60
- Kontakte knüpfen, to meet new people
- überlegen, to think about
- die Fähigkeiten, skills
- ein Meister seines Fachs, a master of his craft
- fremdländisch aussehend, foreign-looking
- die Münze, coin
- der Bursche, teenage boy (old word)
- weisen auf, to point to
- sich herausstellen, to turn out
- erwähnen, to mention
- stumm, mute
- herstellen, to produce
- ausschließlich, only
- die Kommode, chest of drawers
- das Einzelstück, unique specimen
- der Fürst, nobleman
- die Kaufleute, merchants
- letzteres, the latter
- erfahren, to learn (about something)
- von kleiner Statur sein, to be short
- die Gesichtszüge, facial features
- florentinisch, Florentine
- der Geselle, journeyman
- in den folgenden drei Jahren, in the following three years
- die Nordseeküste, North Sea coast
- neblig, foggy
- unterwegs sein, to be on the road
- der Wegelagerer, highwayman
- umzingelt sein, to be surrounded
- bedrohen, to thraten
- verlangen, to demand
- verzweifelt, desperate
- mit dem Leben davonkommen, to survie
- übergeben, to hand over
- die Habseligkeiten, belongings
- der Anführer, leader
- der Räuber, robber, bandit
- was aus ihm geworden war, what had become of him
- das Geräusch, noise
- der Pferdehuf, horse hoof
- die Kutsche, carriage
- in Begleitung von, accompanied by
- die Situation erfassen, to understand the situation
- erschießen, to shoot dead
- zitternd, trembling
- sich beugen zu, to turn down to
- an sich nehmen, to take
- die Ländereien, territory
- nachdenklich, thoughtful
- begleiten, to accompany
- die Kammer, small room (old word)
- das Privatgemach, private room, sanctum
- die Fähigkeiten, skills
- sich etwas genauer anschauen, to have a closer look at something
- bekannt vorkommen, to look familiar
- eingeritzt, carved in
- anfertigen, to make
- eine ganz besondere Person, a very special person
- traurig wirken, to seem to be sad
- kennzeichnen, to mark
- verwirrt, confused
- offenbar, obviously
- klopfen, to knock
- der Diener, servant
- erwarten, to expect
- besteigen, to climb on/in
- schlaksig, lanky
- Sie saßen ihnen gegenüber, They sat across from them
- sich in Bewegung setzen, to start moving/start their journey
- seinen Arm um jemanden legen, to put his arm around someone
- zu Dank verpflichtet sein, to be indebted to
- zum Vorschein kommen, to appear
- klar werden, to become obvious
- vielmehr, rather
- jemals, ever
- sich ineinander verlieben, to fall in love with each other
- egal, wie, no matter how
- wohlhabend, wealthy
- bereit sein, to be ready/willing
- verschwinden, to disappear
- dahinterstecken, to be behind it
- kurz zuvor, shortly before
- trotz, in spite of
- sich mit jemandem entzweien, to fall out with someone
- beeindruckt, impressed
- in der Tat, really
- ungewöhnlich, unusual
- auf Druck, under pressure
- feststellen, to notice
- daraufhin, as a consequence
- gegen eine Kommission, for a commission
- sich kleiden, to dress
- vorgeben, to pretend
- wie eine innere Eingebung, like an inner inspiration
- eine höhere Macht, a higher force
- jemanden nicht aus den Augen lassen, don’t let someone out of your sight
- teilnehmen an, to participate in
- die Hochzeitsfeier, wedding ceremony
- ungewöhnlich, unusual