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Marlies gab dem Bankangestellten die Schlüssel.
„Bitte schön. Viel Glück mit dem Haus.“
„Danke, Frau Karstens. Es tut mir leid.“
„Kein Problem“. Marlies nahm ihren Koffer und ihre Tasche und ging zu dem blauen Audi, in dem ihre Freundin Inge saß und auf sie wartete.
„So, das war’s“, meinte Marlies, als sie im Auto saß. Inge ließ den Motor an und fuhr los. Marlies schloss die Augen.
Nun gehörte das Haus der Bank. Das Haus, das Peter vor zwanzig Jahren gekauft hatte und in dem sie achtzehn Jahre lang glücklich gelebt hatten. Peter, der erfolgreiche Unternehmer und Marlies, die sich immer um Haushalt und Garten gekümmert hatte. Es war ihre Arbeit gewesen, sie hatte ihr ruhiges Leben geliebt. Natürlich war es traurig gewesen, als die Ärzte ihnen nach acht Jahren Ehe mitteilten, dass Peter keine Kinder zeugen konnte. Aber Marlies war auch ein bisschen froh gewesen. Sie hatte lange gedacht, dass sie keine Kinder bekommen könnte und Angst gehabt, dass Peter sich irgendwann eine andere Frau suchen würde. Nun, und jetzt musste sie sich zumindest nur Gedanken um sich selbst machen.
Marlies erinnerte sich an den Donnerstagabend vor zwei Jahren, als wäre es gestern gewesen. Peter war nach Hause gekommen, hatte sich ein Glas Wein eingeschenkt, sich aufs Sofa gesetzt und sie angeschaut.
„Die Firma ist pleite“, hatte er gesagt.
Peters Firma war nicht nur pleite, sondern es gab Schulden. Hohe Schulden. Nicht nur die Firma hatte Schulden, sondern auch Peter als Privatperson. Marlies verstand nichts von Geschäften. Sie hatte eine Ausbildung als Floristin gemacht. So hatte sie Peter kennengelernt. Er hatte bei ihr Blumen für seine Mutter gekauft. Am Anfang hatten Peters Freunde sie abgelehnt. Das arme Mädchen aus dem Blumengeschäft, das sich den reichen Unternehmer angelt. Aber Marlies hatte nie genau gewusst, wie viel Geld Peter hatte und an jenem Donnerstagabend verstand sie auch nicht, wie viele Schulden er hatte und was passiert war.
In den folgenden 18 Monaten versuchte Peter, die Firma und sich zu retten, während Marlies sich weiterhin um den Haushalt und den Garten kümmerte. Sie kaufte jetzt meistens im Aldi oder Lidl ein und achtete auf die Preise, aber ansonsten änderte sich wenig für sie. Bis der Anruf von der Polizei kam. Ihr Mann hatte sich das Leben genommen. Plötzlich stand Marlies allein da. Ihr Leben schien beendet zu sein. Sie hatte es Andreas Homberg, Peters Freund und Anwalt, zu verdanken, dass sie nun ohne Schulden dastand. Die Übergabe des Hauses an die Bank bedeutete den Abschluss dieses Kapitel ihres Lebens. Nach dem Verkauf ihrer Markenkleidung hatte Marlies knapp € 8000 auf dem Konto. Das war viel mehr, als sie jemals besessen hatte, bevor sie Peter kennenlernte.
Inge parkte den Wagen. Zusammen gingen die beiden Frauen in Inges kleine Wohnung im dritten Stock des alten Mietshauses. Marlies und Inge kannten sich seit der Schule.
„Du solltest wirklich zu den Behörden gehen und Bürgergeld beantragen“, meinte Inge. „Das machen alle, dafür haben wir einen Sozialstaat.“
Marlies seufzte. „Das haben wir doch alles schon besprochen. Bitte lass uns einfach einen schönen Nachmittag und Abend miteinander verbringen und morgen bringst du mich zum Flughafen.“
„Ok, ok.“
Gut 24 Stunden später stieg Marlies in Bukarest aus dem Flugzeug. Als sie sich in der Ankunftshalle umschaute, erkannte sie Horst und Oana sofort und lief auf sie zu. Horst war ein 50jähriger Österreicher, der seit vielen Jahren mit seiner rumänischen Frau in der Nähe von Sibiu lebte. Sie besaßen einen Bauernhof, auf dem sie auch Alpakas züchteten und einige Gästezimmer hatten.
„Du musst Marlies sein“, meinte Horst. „Herzlich willkommen in Rumänien.“
„Danke schön. Ich bin sehr gespannt.“
„Es wird dir gefallen.“
Und so war es. Marlies hatte die Anzeige von Horst und Oana vor zwei Monaten in einer deutschen Facebook-Gruppe gefunden. Sie hatten sich geschrieben und Marlies hatte sich mit anderen Menschen ausgetauscht. Menschen, die teilweise seit Jahren durch die Welt reisten und gegen Kost und Logis auf Bauernhöfen, in Jugendherbergen oder anderswo arbeiteten.
Marlies und Peter hatten bis vor zwei Jahren immer in schicken Hotels Urlaub gemacht. Oft hatte Marlies sich gefragt, wie wohl die Menschen in den vielen verschiedenen Ländern lebten. Die Hotels waren alle ähnlich. Peter brauchte Erholung. Meer, einen Pool, gutes Essen, guten Wein. Marlies verstand das, aber sie hatte sich oft gelangweilt. Nun würde sie zwei Monate hier in Rumänien auf dem Hof von Horst und Oana leben und arbeiten. Vielleicht auch länger. Marlies war gerade erst 40, sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich. Peter hatte sein Leben beendet, weil er sich ein Leben ohne Geld und Luxus nicht vorstellen konnte, aber Marlies hatte drei Monate nach Peters Tod gespürt, dass sie bereit war für einen Neubeginn. Für etwas komplett anderes.
- der Bankangestellte, bank employee
- der Schlüssel, key
- viel Glück, good luck
- nehmen, sie nahm, sie hat genommen, to take
- der Koffer, suitcase
- warten auf, to wait for
- den Motor anlassen, to start the engine
- losfahren, sie fuhr los, sie ist losgefahren, to depart
- schließen, sie schloss, sie hat geschlossen, to close
- gehören, to be owned by
- erfolgreich, successful
- der Unternehmer, entrepreneur
- sich kümmern um, to look after
- der Haushalt, household
- ruhig, quiet, calm
- traurig, sad
- mitteilen, to inform, to tell
- Kinder zeugen, to father children
- froh, happy, relieved
- Angst haben, to be afraid
- irgendwann, sometime
- zumindest, at least
- sich Gedanken um sich selbst machen, to think about herself/to worry about herself
- sich erinnern an, to remember
- als wäre es gestern gewesen, as if it had been yesterday
- sich ein Glas Wein einschenken, to pour oneself a glass of wine
- pleite, bankrupt
- nicht nur … sondern auch, not only …. but also
- die Ausbildung, training
- am Anfang, in the beginning
- ablehnen, to reject
- das Blumengeschäft, flower shop
- angeln, to fish
- genau, exactly
- retten, to save
- weiterhin, to continue doing something
- meistens, mostly
- auf die Preise achten, to pay attention to the prices
- ansonsten, otherwise
- sich ändern, to change
- der Anruf, call
- sich das Leben nehmen, to commit suicide
- scheinen, es schien, es hat geschienen, to seem, to shine
- der Anwalt, lawyer
- verdanken, to owe
- die Übergabe, handing over
- der Abschluss dieses Kapitels, the end of this chapter
- der Verkauf, sale
- die Markenkleidung, brand-name clothes
- jemals, ever
- besitzen, sie besaß, sie hat besessen, to own
- das Mietshaus, apartment building
- die Behörden, authorities
- Bürgergeld beantragen, to apply for social benefits
- etwas besprechen, to discuss something
- miteinander verbringen, to spend together
- aus dem Flugzeug steigen, to get off the plane
- sich umschauen, to look around
- die Ankunftshalle, arrival area
- erkennen, sie erkannte, sie hat erkannt, to recognize
- der Bauernhof, farm
- züchten, to breed
- gespannt, excited, curious
- es wird dir gefallen, you will like it
- die Anzeige, ad
- sich austauschen, to exchange information/ideas
- teilweise, partly
- gegen Kost und Logis, for food and accommodation
- die Jugendherberge, youth hostel
- anderswo, elsewhere
- schick, fancy
- sich fragen, to ask oneself
- ähnlich, similar
- die Erholung, rest
- sich langweilen, to feel bored
- sich vorstellen, to imagine
- spüren, to feel
- bereit sein, to be ready
- etwas komplett anderes, something completely different